Mit  „Crash“ will Charli XCX den Mainstream ein für allemal für sich gewinnen. Mehr noch: zu experimenteller Pop-Musik umerziehen. 80er Synth, Eurodance-Interpolationen und Glam-Vamp-Look sollen dabei behilflich sein. 

Ist Charli XCX ein Popstar? Seit einem Jahrzehnt ist Charlotte Emma Aitchison auf musikalischen Gratwanderungen zwischen Avantgarde und Mainstream unterwegs. Und seit einem Jahrzehnt verfolgt die Britin die selbe Frage. Klar: Charli macht unüberhörbar Pop. Pop, der sich jedoch nicht in den Charts platziert. Ihre hingebungsvolle Fangemeinde verehrt sie gerade dafür. Mit manisch übersteuerter Synthetik und klassischen Hooks, die gerne mal in Störgeräuschen und Autotune-Eskapaden münden, gilt die Musikerin als Number 1 Angel der Leftfield-Bubble.

Zum experimentellen Image beigetragen hat die Zusammenarbeit mit dem Londoner Kollektiv PC Music. Nach dem bis heute von XCX verleugneten dritten Album  „Sucker“ stellt die Hyperpop-Pionierin SOPHIE als Produzentin der EP „Vroom Vroom“ 2016 die Weichen neu. PC Music-Mastermind A.G. Cook wird zum kreativen Leiter und das Mixtape „Pop 2“ 2017  unter seiner Regie zum Kritiker*innen-Liebling. Zuletzt überzeugt das Quarantäne-Album „how I’m feeling now“ mit roher Emotionalität und futuristischen Genre-Mixen als Vorzeigewerk der Pandemie. Könnte so etwa der Pop der Zukunft klingen?

Charli hat jedenfalls keine Lust mehr zu warten. Mit ihrem fünften Studioalbum „Crash“ verkündet sie im August 2021 den Sellout durch Ultra-Pop. Unterstützen sollen sie ein 13-köpfiges Team aus Produzent*innen und Songwriter*innen, von denen die Mehrzahl bereits Hits für Selena Gomez und Halsey geschrieben hat.  Schließlich ist es das letzte Werk unter dem auslaufenden Vertrag mit Atlantic Records. Und damit die vorerst letzte Chance auf finanziell ausufernde Konzepte. Zuvor äußert sich die  29-jährige Singer-Songwriterin immer wieder mit Unmut über ihr Label – über falsche Erwartungen, kreative Beschneidungen und sexistische Systemzwänge. Höchste Zeit also, abzurechnen. Oder wie es XCX in einem Interview mit dem Rolling Stone selbst sagt: „Stell dir vor, die ganze Kampagne wäre ein Kommentar über das Major-Label-System und die sadistische Natur der Popmusik?“

Für ihre große Mission inszeniert sich Aitchison erstmals als Persona im Glam-Vamp-Look. Mit toupierter 80er-Mähne und verhexten Musikvideos voller Tanzeinlagen, die eine klare Geschichte erzählen: Charli XCX hat ihre Seele an den Teufel verkauft. Promotouren durch Late-Night-Shows und ein Auftritt bei Saturday Night Live scheinen die provokante Strategie aufgehen zu lassen. Wäre da nur nicht die harsche Kritik der langjährigen Anhänger*innen, die ihre Empörung über die ersten zwei Vorabsingles „Good Ones“ und „Beg for you“ ungefiltert ins Internet kotzen. XCX reagiert sogleich in Tweets: Ziel sei es, nach den Regeln des Mainstreams eine Plattform für Künstler*innen wie sie zu schaffen, um im zweiten Schritt die Charts mit avantgardistischer Musik zu unterwandern. Clever sagen die einen dazu, arrogante Selbstüberschätzung die anderen. Machen nicht Pop-Fans den Pop-Star?

Fest steht: „Crash“ offenbart sich in seiner Gesamtheit als Pop-Lexikon in Reinform. Mit 12 Songs wandert XCX wie eine Untote durch die letzten vier Musik-Jahrzehnte. Ihre große Passion bleiben Eurodance, 2000er Dance-Pop und 80er Synth. Trockene Drum-Machine-Beats und flirrende Keyboard-Samples verneigen sich vor Ikonen wie Prince, Madonna oder Janet Jackson. Das klingt zunächst rückwärtsgewandt, geht in weiten Teilen aber als aufmerksames Studieren von Vorbildern und Spagat zwischen Moderne und Nostalgie durch.

Titeltrack „Crash“ eröffnet das Album ohne Tempolimit mit donnernden New-Jack-Swing-Drums und Gitarrensolo. „New Shapes“ schenkt mit Caroline Polachek und Christine and The Queens gleich zwei Traum-Features für den Dancefloor. An die 80er Party anschließend sticht vor allem das unnachgiebige „Lightning“ heraus – dank eindringlichem Vocoder-Einsatz, der den Übergang vom Balladen-Gestus zum elektronischen Pop-Banger der Marke New Order markiert. Flamenco-inspirierte Gitarre und Autotune-Triller machen den von Ariel Rechtshaid und Rami Yacoub produzierten Song zu einem der experimentellsten des Albums. „Move Me“ hingegen überzeugt mit einer eindringlichen Vocal-Performance und Glitch-Effekten über  Trap-Beats und Synthesizer-Verirrungen.

Doch gerade zum Ende verliert „Crash“ an Strahlkraft: „Yuck“ klingt wie die uninspirierte Kopie einer  vergessenen Dua Lipa-Session. „Twice“ wie ein überkochtes Leftover des 2019er Albums „Charli“, das gut und gerne ein einmaliges Live-Erlebnis hätte bleiben können. Gleiches gilt für die zaghafte Ballade „Every Rule“ als gähnendes Remake des Songs „I Don’t wanna know“. „Used to Know Me“ und das von Rina Sawayama unterstützte „Beg for You“ enthalten offensichtliche Interpolationen der Eurodance-Hymnen „Show Me Love“ von Robin S und „Cry For You“ von September. Am Ende scheitern beide Songs daran, dem Ausgangsmaterial neue Impulse hinzufügen. Und „Baby“? Kommt mit seiner sprudelnden Produktion zunächst als Disco-Pop-Banger daher, kann mit seiner freudlosen Repetition aber zu keinem Zeitpunkt wirklich zünden.

Spätestens hier wird klar: Album Nummer fünf bricht unter jeder Menge Konzept-Geschwurbel zusammen. Kollaborationen wie „Blame it on Your love“ mit Lizzo oder Songwriting-Credits an Megahits wie Icona Pops „I love it“ oder „Senorita“ von Camila Cabello und Shawn Mendes zeigten bereits vorher, wie sehr das Populäre neben dem Experimentellen zur musikalischen Identität Aitchisons gehört. Doch der Versuch, beide Welten ultimativ zu vereinen, ist gescheitert – auch wenn das Album derzeit siegessicher auf Platz eins der UK-Charts zusteuert. „Crash“ kann der Erforschung von Leftfield im Mainstream nur wenige Neues  hinzufügen. Und vor allem: keiner der beiden Seiten etwas wirklich Bleibendes geben. Pop-Revolution ist das nicht. Und trotzdem könnte es ein Paradigmenwechsel sein. Charli war schon immer sprunghaft. Und vor allem lange genug mit Vollgas auf dem Pop-Highway unterwegs, um die Vision von Pop 2 einmal ungebremst gegen die Wand fahren zu können. „Crash“ ist so gesehen auch eine Chance, um mit Selbstkontrolle über das Schaffen und die eigene Person aus der Asche zu steigen. Bis dahin heißt es: Ist Charli XCX ein Popstar? Vielleicht. Zukunft ungewiss.

Foto © Warner Music

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